Biblische Impulse

Kirche am Platz Dorfplatzfest Kassel-Bettenhausen 2019
Kirche am Platz Dorfplatzfest Kassel-Bettenhausen 2019

Mut fassen | Mut machen

Die Begegnungen, Erfahrungen, Gespräche an der „Kirche am Platz“, aber genauso die mit dieser Tätigkeit einhergehenden Enttäuschungen bringen mich in unmittelbaren Kontakt zu Worten aus der Bibel. Dabei wird klar: Das Evangelium ist mehr als nur Erinnerung an Vergangenes, es ereignet sich hier und jetzt. Auch heute schickt Jesus die Seinen in die „Dörfer und Städte Galiläas“ aus, um dort nach den Menschen zu suchen, und in dem Moment da zu sein, wo sich bei ihnen durch Lebenssituation oder Krise der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Zuwendung einstellt.


„Mit Hilfe des Anführers der Dämonen treibt er die Dämonen aus.“

(Lukasevangelium, Kapitel 11, Vers 15)

Menschen sind in ihrer Feindschaft zu Jesus so gefangen, dass sie ihm selbst da, wo er Menschen von lebensfeindlichen Kräften befreit, Böses unterstellen. Etwas davon finden wir in unserer Gegenwart wieder: Viele können heute von der Kirche, ja von der christlichen Kultur überhaupt, nur noch Schlechtes denken. Ihnen ist unvorstellbar, dass die Kirche, die Glaubensgemeinschaft der Christen, unendlich viel Gutes für die Menschheit getan hat und unermüdlich tut. Diese Tatsache soll die dunklen Seiten der Kirchengeschichte keineswegs verdrängen. Das Resultat aber ist, dass unsere Gesellschaft gerade dabei ist, die Wurzeln abzuschneiden, aus denen sie lebt. Was folgt daraus heute? Christen mögen hinausgehen und dort sichtbar werden, wo die Kirche nicht mehr ist und keine Rolle mehr spielt. Das können sie angesichts der Realität eigener Gebrochenheit und Fehlerhaftigkeit demütig und bescheiden tun, zugleich aber selbstbewusst und stolz über das, was Gottes Geist in seiner Kirche und durch seine Kirche bewirkt.


„Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren.“

(Markusevangelium, Kapitel 4, Vers 35).

Das sagte Jesus zu seinen Jüngern, und sie stiegen mit ihm ins Boot. Es folgt die Erzählung vom Sturm auf dem See, dem Jesus Einhalt gebietet, und worauf er sie fragt: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Dann kommen sie am „anderen Ufer“ an und erleben eine Welt, die unheimlich, fremd und verschlossen ist. Auch dort kommt es dazu, dass Jesus einen von Dämonen besessenen Menschen heilt. Aber die Menschen, die dort wohnen, „baten ihn, ihr Gebiet zu verlassen“ (Mk 5, 1-17).

Wer sich auf die Straßen und in die Parks aufmacht und dort ohne spektakulären Aufwand und lautes Getöse unter den Menschen sein will, der begibt sich auch gewissermaßen ans „andere Ufer“. Ihm begegnen dort Fremdheit und Desinteresse, und er spürt den tiefen kulturellen Bruch, der die nach wie vor existierende kirchliche Binnenwelt vom Lebensgefühl und der Lebenswirklichkeit der Menschen entrückt hat.

Da fühlen wir uns in der Kirche viel wohler, wenn wir es sind, die einladen (etwa zu einem Konzert oder einem interessanten Vortrag), und wenn die Menschen dann zu uns kommen. Und trotzdem: „Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren.“ Damals gab es nach der Rückkehr von dort kein Erfolgserlebnis, aber ganz offensichtlich war es Jesus wichtig, dass seine Freunde diese Erfahrung machen.


„Sie hatte von Jesus gehört.“

(Markusevangelium, Kapitel 5, Vers 27).“

Eine Frau litt an Blutungen und hat sich über viele Jahre ärztlich behandeln lassen, ohne dass es ihr geholfen hat. Nun hatte sie von Jesus gehört und erfuhr, dass er sich gerade im Ort aufhielt. Da setzte sie alles daran, um zu ihm zu kommen, denn sie sagte sich: „Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt.“

Zwei Impulse ergeben sich daraus für eine kirchliche Präsenz außerhalb der eigenen Kirchen, Gemeindehäuser und Einrichtungen: Ihre wichtigste Aufgabe ist, dass Menschen, die da vorübergehen, (erneut) „von Jesus hören“. Das Wichtigste jedoch lässt sich nicht „machen“! Im Bild des Evangeliums: Damit die Frau Jesus begegnen kann, muss er gerade am Ort sein. Darum mögen wir beten (und wenn Sie mögen, schließen Sie sich dieser Gebetsbitte an):

Herr Jesus Christus, du hast alles gut gemacht. Öffne unsere Herzen und Sinne, sei Du in unserer Mitte und lass uns zusammen mit den Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, das große Geschenk deiner Gegenwart erfahren. Gib, dass wir in der Gemeinschaft mit dir die Kraft finden, die unser Leben verwandelt und die uns zu Botinnen und Boten deiner frohen Botschaft macht. Amen.


„Als Simon und seine Begleiter Jesus fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich. Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen.“

(Markusevangelium, Kapitel 1, Verse 37-38)

In Kafarnaum hat Jesus zu den Menschen gesprochen, Kranke und von unheilvollen Kräften besessene Menschen geheilt. Es ist klar, dass die Menschen dort Jesus bei sich behalten wollen. Trotzdem hat er sich ihnen entzogen, um woanders hin zu gehen. Dieses Bild lässt sich gut auf die Situation in unseren Pfarreien übertragen. „Herr Pfarrer, Sie müssen weiter bei uns die Messe halten!“ Genauso wie in Kafarnaum sind es „alle“, denen die Messfeier zur gewohnten Zeit in ihrer Kirche berechtigter- und naheliegender Weise am Herzen liegt. „Alle“ – das sind hier die immer kleiner werdenden Kern- oder Gottesdienstgemeinden. Und doch: Indem Jesus sagt, „lasst uns anderswo hingehen“, ist er uns auch darin Vorbild und Orientierung, um in Zukunft weiter eine Kirche für die Menschen sein zu können.


„Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten.“

(Matthäusevangelium, Kapitel 5, Vers 13)

Diese Worte spricht Jesus vom Berg aus zu den Menschen, die ihm gefolgt sind. Wovor er warnt, genau das ist ständige Realität auf der Straße: Die große Mehrheit der Passanten läuft am Stand von „Kirche am Platz“ vorbei. Die Menschen treten sinnbildlich gesehen darüber hinweg. Dabei nehmen sie deutlich wahr, worum es geht, aber es ist für sie belanglos geworden. Hat da also das Salz seinen Geschmack verloren und taugt zu nichts mehr? Die Frage wirkt beklemmend, aber wir müssen sie uns stellen. Jesus nennt seine Freundinnen und Freunde „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“. Das ist Zusage und Auftrag zugleich. Das, was sie bereits sind, möchten sie werden, indem sie sich selbst dem Licht der Liebe Jesu öffnen und so fähig werden, es weiterzugeben. Der Bezugsrahmen aber ist die Welt außerhalb eines kirchlichen Binnenraums, in den sich zurückzuziehen für viele Jünger Jesu unserer Zeit eine Versuchung liegt.


„Gib mir zu trinken.“

(Johannesevangelium, Kapitel 4, Vers 7b)

Diese Bitte richtet Jesus an die samaritische Frau am Jakobsbrunnen. Der Kirchenvater Augustinus deutet es so: Jesus dürstet nach dem Glauben der Frau. Genauso dürstet ihm nach unserem Glauben und nach dem Glauben der Menschen, die weit abseits unserer Kirchen unterwegs sind. Es entwickelt sich ein Gespräch, wobei es scheint, als redeten beide einander vorbei. Wir haben religiöses Wissen und wir haben Vorstellungen – und doch kann es sein, dass auch wir noch nicht bis an die Quelle gekommen sind. Ein weiteres kommt hinzu: Jesus bringt die Frau in Kontakt mit ihrer Lebenswirklichkeit. Sie führte ein zutiefst unmoralisches Leben. Das war wohl der Grund, dass sie zur größten Mittagshitze an den Brunnen kam, wo normalerweise niemand schöpft, und sie niemandem aus dem Dorf begegnen muss. Aber dann aus der Begegnung mit Jesus hervorgegangen, kann sie befreit mit ihren Nachbarn auch darüber sprechen, was sie getan hatte. So wird die Frau zur Mittlerin der frohen Botschaft. In der symbolischen Schriftdeutung sieht man in ihr die Kirche, die ja genauso ihre Schatten hat und aus der lebendigen Begegnung mit Jesus aufgerichtet werden will. Sie kann die Menschen im Dorf motivieren. Diese bitten Jesus, eine Weile bei ihnen zu bleiben. Dann sagen sie zu der Frau: „Nicht mehr aufgrund deiner Aussage glauben wir, sondern weil wir ihn selbst gehört haben.“

Das Ziel besteht darin, dass die Menschen selbst Jesus sehen und erkennen, wer er für sie ist. Dann brauchen sie unser Zeugnis nicht mehr, weil sie ja selbst in Kontakt gekommen sind. Darum geht es bei „Kirche am Platz“: Die Menschen gehen zum „Brunnen“. Sie sind samstags in der City, um Notwendiges zu besorgen, sich und anderen einen Wunsch zu erfüllen, letztlich aber, um irgendwie ihrer Sehnsucht nachzugehen. Was ihnen am Stand von „Kirche am Platz“ geboten wird, ist eine Anregung, ein Impuls, eine Idee. Ob diese bei ihnen „fruchtet“, steht nicht in unserer Macht. Auch davon spricht Jesus in unserem Evangelium: „Einer sät, und ein anderer erntet. Ich habe Euch gesandt, zu ernten, wofür ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet, und ihr erntet die Früchte ihrer Arbeit (Joh 4, 38).“


„Der Herr braucht sie.“

(Matthäusevangelium, Kapitel 21, Vers 3)

Im Evangelium vom Palmsonntag geht es immer auch um die Eselin, auf die sich Jesus setzt und in die Stadt Jerusalem einreitet. Das Tier und dessen Besitzer waren zur rechten Zeit am rechten Ort, um sich Jesus zur Verfügung zu stellen. Worum es da ging, hat aber der Besitzer erst später oder vielleicht auch überhaupt nicht erfahren. Das kann auch eine mögliche Haltung für das sein, was man innerkirchlich „Passantenpastoral“ nennt: Zur rechten Zeit am rechten Ort (hier auf der Straße, oder im Park) sein, damit Jesus (möglicherweise) diese Eselin benutzt, um zu seinen Menschen zu gelangen.


„Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt.“

(Johannesevangelium, Kapitel 14, Vers 21)

Was bedeutet „seine Gebote halten“? Im Kern geht es darum, was im Englischen „sharing the values“ genannt wird. Das was Jesus am Herzen liegt, das will ich teilen, es ist auch für mich wichtig und dient mir als Orientierung. Das aber ist seine Liebe, seine unzertrennliche Verbundenheit mit den Menschen. Sie ist nichts Geringeres als das Fundament unseres Zusammenlebens, der Gesellschaft und Kultur, in der wir aufgewachsen sind, und die wir für selbstverständlich nehmen. Indem wir aber heute dabei sind, das, was Jesus wert ist, zu vergessen, tragen wir zur Zerstörung unseres Fundaments bei. Wo aber sollte jetzt die Kirche sein? Nicht nur in den Gotteshäusern, sondern – so wie es in ihren vielen karitativen Initiativen und Einrichtungen geschieht – da, wo Menschen in Not sind.


„Zachäus, heute muss ich in deinem Haus zu Gast sein.“

(Lukasevangelium, Kapitel 19, Vers 5b)

Jesus gibt einen atemberaubenden Einblick in seine „Passantenpastoral“. Der reiche Zollpächter Zachäus möchte Jesus sehen, als er hörte, dass er sich gerade in der Stadt aufhält. So klettert er auf einen Baum am Wegesrand und erfährt zu seiner allergrößten Überraschung, dass Jesus ihn persönlich ruft. Wie aber spricht Jesus ihn an? „Heute muss ich bei dir zu Gast sein!“ Jesus macht sich selbst gegenüber Zachäus bedürftig, für ihn selbst, nicht für Zachäus ist es wichtig, dass er zu ihm kommen kann. Das ist die „Methode“, die Jesus uns hier aufzeigt: Dem Fremden, dem Passanten zu sagen, „Ich brauche dich“. Dagegen laufen unsere Methoden bei der von der Kirche organisierten City-Pastoral genau andersherum. Wir wollen etwas anbieten, sei es eine Postkarte, eine Kerze, ein Konzert in der „Kulturkirche“… und damit signalisieren, dass wir etwas bieten, was der andere gut brauchen könnte. Aber in Wirklichkeit kann damit der andere möglicherweise gar nichts anfangen.


„In jener Zeit, als Jesus in die Nähe von Jericho kam, saß ein Blinder an der Straße und bettelte. Er hörte, dass viele Menschen vorbeigingen, und fragte: Was hat das zu bedeuten? Man sagte ihm: Jesus von Nazareth geht vorüber. Da rief er: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“

(Lukasevangelium, Kapitel 18, Verse 35-38)

Jesus kommt an einen Ort und verlässt ihn wieder. Während er dort ist, trifft er auf Menschen. Oftmals ergeben sich diese Begegnungen eher zufällig. Jesus hat selbst keinerlei Strategie entwickelt, wie er möglichst viele Bewohner des jeweiligen Ortes erreichen könnte. Er kam einfach, war dort und ging wieder. Für die City-Pastoral ist dieses Vorbild Jesu entlastend. Denn es ist keineswegs zwingend erforderlich, in der City möglichst lange und möglichst oft da zu sein (etwa durch einen permanent betriebenen Kirchenladen). Zu den Passanten hingehen und bei ihnen da sein können richtet sich einfach danach, was momentan möglich ist. Das „Ziel“ ist aber nichts Geringeres als die Gottesbegegnung, die Erfahrung, die der Mensch macht, indem er erkennt: Jesus ist da! Diese Begegnung lässt sich nicht „machen“, sie ist unverfügbares Geschenk Gottes und bedarf der Offenheit des Menschen. City-Pastoral macht es sich zur Aufgabe, „Räume“ zu schaffen, in denen Begegnung geschehen kann. Im Bild des Evangeliums ist sie es, die dem Menschen auf der Straße sagt: „Da geht Jesus von Nazareth vorüber.“